Zu Beginn der achtziger Jahre muss in Linz der Erkenntnis gereift sein, dass in der postindustriellen Informationsgesellschaft allein mit der Bruckner-Klangwolke und Törtchenbacken kein Topf zu gewinnen ist. Mutig wurde deshalb zunächst die Veranstaltungsreihe verknüpft mit dem Festival für Technologie und Gesellschaft, «Ars Electronica», einem Podium für experimentelle elektronische Musik. Zu erproben galt es in den letzten Jahren die ganze Bandbreite dessen, was Geräusch, Ton, Stimme, Klang ist – meist im Sinne einer «Synästhetik», verbunden mit Videokunst, Lichtinszenierung, Körperkunst. Tanz und Theater. Berückende fremdartige Bilder huschten jeweils über Leinwände und Bildschirme, während Klangkaskaden in den Ohren dröhnten. Zwischen Lautsprechertürmen, elektronischen Altären, Kabelgewirr und blinkenden Lichtern inmitten des Infernos der Maschinen stand schon vor fünf Jahren der denkende Mensch.
Computern rund um die Uhr
Neu ist die Ars Electronica also nicht. Sie fand dieses Jahr bereits zum 16. Mal statt. Neu ist, dass sie in diesem Jahr dem dem weltweiten Datenaustausch breiten Raum gab zur Begegnung mit moderner Kunst und Kommunikation. Das diesjährige Festival hinterliess denn auch im Vergleich zu früheren Jahren einen ungewohnten Eindruck. Keine Videoskulpturen, keine dunklen Kammern, als einzige Installation Computer, Computer und nochmals Computer, manipulierbar rund um die Uhr und zwar im Stehen an Bars, in Sitzecken, in Liegestühlen und in Polstersesseln. Der Umgang mit neuen Technologien blieb nicht graue Theorie, sondern war praktisch zu proben an einer Vielzahl von ständigen Klang- und Bildinstallationen. Technik und Technologie, Fiktion und Realität wirkten ineinander bei einer abenteuerlichen Reise per Internet.
Wired Cafe
Unter dem Titel Wired Cafe wurden im Brucknerhaus Netzwerkprojekte von internationalen Kunstschaffenden vorgestellt, die sich mit den sozialen und utopischen Möglichkeiten der neuen Technologien beschäftigen. Dabei ist auch die Form der Präsentation ganz auf die Eigenheiten dieser neuen Kunstformen eingegangen. Den Rahmen dafür bildete ein Kaffeehaus, in dem nicht nur Speisen und Getränke konsumiert, sondern auch Kunstwerke durch das eigene Mittun erlebt werden konnten.
«Checkpoint '95»
Mit neuer Schärfe kommen auf das Denken alte Fragen zu, und es ist wohl kein Zufall, dass die Ars Electronica einer Rückbesinnung auf die Vergangenheit Platz einräumte. Die oberösterreichische Metropole war bis 1955 eine geteilte Stadt – auf der einen Seite der Donau sassen die Amerikaner, auf der anderen die Russen. Die einzige Verbindung war die Nibelungen-Brücke. Und genau hier haben am Dienstagabend im Rahmen der Ars 4800 Personen unter «Checkpoint '95» eine Art Wiedervereinigung auf elektronischem Wege gefeiert, wenngleich die Live-Übertragung auf 3Sat zum Desaster wurde.
Gewiss, die Symposien konnten nur der Versuch einer Annäherung von verschiedener Seite sein – ein sehr wesentlicher jedoch. Denn auf den bereits existierenden Datenautobahnen vollzieht sich gegenwärtig eine Art Revolution. Im weltweit grössten Datennetz, dem Internet, bilden sich neue virtuelle Gemeinschaften, denen gemeinsame Erfahrungen wichtiger sind als geographische, religiöse und nationale Grenzen. Weltweit erleben bereits mehr als 30 Millionen Menschen die phantastischen Reisen auf den elektronischen Datenautobahnen. Die aktuelle Wachstumsrate des Internet beläuft sich auf rund 2 Millionen neue Anwender pro Monat – Tendenz steigend.
Was die Erwartungen einer zukünftigen Entwicklung des elektronischen Datenaustausches betrifft, divergieren die Meinungen von Wirtschaftsexperten, Politikern und Künstlern durchaus. So prophezeit Olivetti-Chef Carlo de Benedetti, dass die Information-Highways einen grösseren Einfluss auf die Entwicklungen von Wirtschaft und Gesellschaft haben als Bahn, Elektrizität und Telefon jemals hatten. Die Tagung mochte die Euphorie nicht ganz teilen. Les Levidov zum Beispiel demonstrierte anhand seiner «Videospielberichterstattung», dass sich die vermeintlich völkerverbindenden modernen Medien noch besser vor die Kriegspropaganda spannen lassen als die alten.
Techno-Body
Selbstverständlich hat sich die Ars Electronica 95 auch dem Einfluss der neuen Technologien im Bereich der darstellenden Kunst angenommen. Dabei wurden mit Hilfe der Elektronik neue sinnliche Aspekte des Körpers enthüllt. Computergenerierte Grossbildprojektionen, präsentiert von Granular Synthesis, oder die eher enttäuschende Cyber-Oper von Peter Weibel rund um das Thema Wagner standen ebenso auf dem Programm wie Performances von Laurie Anderson und Saburo Teshigawara. In der Tanz-Performance «here to here» zeigte Teshigawara mit geradezu konventionellen Mitteln dle erschreckenden Visionen der Technowelt auf. Und Laurie Anderson (siehe unten) präsentiert heute abend mit «Stories from the nerve bible» multimedial eine «komplettierte Technowelt».
Die Preise
us. Die Goldene Nica (300000 Schilling), weltweit bedeutendste Auszeichnung für Computer-Kunst, in der Sparte Computer-Animation, geht in diesem Jahr an Bob Sabiston aus den USA.
In dieser Kategorie erhält der deutsche Maler Thomas Bayrle für seine Arbeit «Superstars» einen Sonderpreis über 100000 Schilling.
Die Goldene Nica für Computermusik (150000 Schilling) wurde von der Jury dem Briten Trevor Wishart für die Komposition «Tongues of Fire» zuerkannt.
Zum ersten Mal in diesem Jahr wird eine mit 100000 Schilling dotierte Goldene Nica für das neue Medium World Wide Web (WWW) vergeben – an den US-Amerikaner Robin Hanson für «Idea Futures», einer Ideenbörse für Prognosen, Neu-Entwicklungen und Trends.
In der Sparte Interaktive Kunst wurde diesmal dagegen keine Nica vergeben. Einen Sachpreis in dieser Kategorie (100000 Schilling) erhielt der Deutsche Michael Saup «Binary Ballistic Ballet».
Publikation in Solothurner Zeitung/Grenchner Tagblatt/Langenthaler Tagblatt/Berner Rundschau