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Erde, Sonne, Hitze, Schwerkraft: Visionäre Dystopie à la Ramuz ist nun frei verfügbar

Verfasst von Urs Scheidegger |

Da hat sich aber der hinreichend auf rurale Idyllen spezialisierte Charles Ferdinand Ramuz einen seltsam entrückten Ort erkoren, um der Schönheit irdischer Fortschrittsgläubigkeit postwendend deren leicht schaurige Desillusionierung ins Bewusstsein zu rufen. Nun ist «Présence de la mort» frei zugänglich.

Lang ist's her. Es war «La beauté sur la terre» als Maturastoff, der mein Interesse an C. F. Ramuz' literarischem Universum weckte. Zumal Ramuz seine «Schönheit auf Erden» früher schon mal in schönster Memento-mori-Manier zum Verglühen in die Sonne schickte – unter dem Titel: «Présence de la mort». Nach Ablauf des Urheberrechtsschutzes ist das ebenso utopisch wie dystopisch anmutende Werk mit einem Hauch fantastischer Science-Fiction-Antizipation nun frei verfügbar.

Ein kurzer Blick zurück auf fliegende Objekte und andere Geschwader der Kulturgeschichte: Neben den tollkühnen Männern in ihren fliegenden Kisten waren da Jules Vernes Flüge zum und rund um den Mond; irgendwann kam ein versprengter Meteor geflogen, der den von der Kirchenfeldbrücke in Bern pinkelnden Dürrenmatt verfehlte; das eine oder andere Mal waren es Himmelskörper unterschiedlicher Provenienz samt Erde selbst, die sich zum Grounding in die Sonne anschickten; bereits in der Antike liess sich der flügelbewehrte Ikarus sonnenwärts ins Verderben treiben. Worte waren eben schon früh geflügelt und manch anderes schon immer schwerkraftabhängig unterwegs. So auch im Hitzesommer 1921, als Charles Ferdinand Ramuz – geboren 1878 in Lausanne, gestorben 1947 in Pully – der Idee verfiel, einfach mal so durch einen weiter nicht erläuterungbedürftigen «Unfall im Gravitationssystem» («Par un accident survenu dans le système de la gravitation, rapidement la terre retombe au soleil et tend à lui pour s’y refondre: c’est ce que le message annonce») die Erde mit der Sonne kollidieren zu lassen. Alles fein aufgezeichnet in lyrischen Versatzstücken in einem Buch, das 1922 unter dem Titel «Présence de la mort» erschienen ist.
«En souvenir d’un été où on a pu croire que ce serait ça» («in Erinnerung an einen Sommer, als wir dachten, das wäre es»), hatte Ramuz als Anmerkung in der Originalausgabe von 1922 (Éditions Georg, Genf) notiert.
 Tatsächlich war der Sommer 1921 in der Schweiz und in Europa glühend heiss, mit einem Rekordwert von 38,9° in Genf. Klimatische Bedingungen, die den Autor zu einer Art apokalyptischen Vision inspirierten, die in nachgerade biblischer Emphatik endet: «La nouvelle lumière les a frappés tellement fort que leurs yeux se sont fondus, leurs anciens yeux qui connaissaient la nuit, et ils ont eu des yeux qui ne la connaissent plus.
Leurs yeux, leurs oreilles ont été changés ; ils ont rappris à voir, ils ont rappris à entendre ; – et longuement ils se sont mis à regarder, s’étant tournés à droite, à gauche : ils ont été bien étonnés…
Et ils ont dit : — Mais c’est chez nous!»

C. F. Ramuz 1925 – Portrait von Édouard Vallet
C. F. Ramuz 1925 – Portrait von Édouard Vallet

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