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Kim de l'Horizons Schreibkunst – ganz schön fluid, auch wenn's zuweilen hakt

Verfasst von Urs Scheidegger |

Was auch immer in Kim de l'Horinzons «Blutbuch» gelegentlich ersmalltalkt wirken mag wie sleaziger 50-Prozent-Trash, es handelt sich doch um einen voll auskonzeptionalisierten Erzählfluss im Dienste seiner Schreibtätigkeit. Wobei sich Intertextualität und  Intersexualität nicht nur wechselseitig umkreisen, sondern geradezu ineinander fliessen. Wie aber steht es sonst mit der Fluidität in Kims Schaffen? Kann er sein Universum fürderhin umschreiben ohne es umzuschreiben? Oder gerät im genderfluiden Schreibvorgang das Fluidum nicht doch unfreiwillig ins Stocken?

Viel möchte man zur aktuellen Verleihung des Deutschen Buchpreises 2022 an Dominik Holzer, geläufiger als Kim de l'Horizon, nicht mehr sagen – aber ein paar Sätze gehen noch, zumal das eine oder andere von literarischer Relevanz im Trubel tumb-semi-kabarettistischer Preisverleihung im Kaisersaal des Frankfurter Römer verschütt gegangen ist. Und das vor einer Schar Claqueure mit «Standing Ovation» (womöglich in Unkenntnis dessen, dass «standing» ursprünglich weniger mit «stehen» als mit «andauernd» zu tun hat).
Ja, Literatur per se war nie eine potentiell zu beklatschende, bejauchzende oder bebuhende Performance, sondern eine mehr oder weniger lautlose Angelegenheit, deren Ursprung schon immer im Lesen dessen lag, was einst geschrieben wurde. Literatur ist ein solitärer Lese-Event, kein Hör-Genuss (dafür gibts Gesang oder Hörspiele); Literatur ist genuin auch kein gemeinsames Hör- und Seh-Erlebnis (das fällt in den Zuständigkeitsbereich von Theater, Oper, Operette, Musical, Film etc). Was keineswegs heisst, dass Literatur älter als Hören/Sprechen ist. Im Gegenteil, vermutlich hat der Homo sapiens beiderlei Geschlechts (in der biologischen Taxonomie existiert weder der Plural noch ein Genus) Laut gegeben, bevor er zum Griffel griff.

Zurück zur Frage nach der Fluidität, die in der Rezeption so penetrant kolportiert und im «Blutbuch» selber so exzessiv beworben wird.

Vor Langem schon wurde darauf hingewiesen, dass Kim de l'Horizon/Dominik Holzer als gelernter Schriftsteller sich quasi fliessend durch die unterschiedlichsten Textsorten und deren Begriffswelten bewegt. Ohne viel Aufhebens in graphemischen wie phonetischen Belangen navigierte er 2020 mit Père, Mère und anderem mehr übers Meer.

Anno dazumal fanden sich Bodnant-Schneeballblüten neben Foucault, Hirsutismus neben Fotzelschnitten. Im «Blutbuch» wird das schriftstellerische ErscheinungsbildRepertoire zügellos erweitert um Tabellen, To-do-Listen, Kursivschrift, Versalschrift, Fussnoten, verkehrtherum gedruckte Seiten und um mimetisches Herumstreunen in der abendländischen Geistesgeschichte, um seine ganz private Gesellschaftskritik quasi auf literarischer Basis zu reflektieren. Namentlich treten in Erscheinung: Virginia Woolf, Max Frisch, aus Spanien Paul B. Preciado, samt dessen intellektuellen Vordenker Derrida und Foucault, aus Frankreich die kemetische Kundalini-Yoga-Lehrerin und Gongtherapeutin Tabita Rezaire, aus dem Berner Patriziat unter falsch geschriebenem Namen Madame DeMerron (sic!), aus den USA die nichtbinäre Person Alok Vaid-Menon, die im Englischen das geschlechtsneutrale Pronomen they zu verwenden pflegt. Es gibt Dialoge, Kinderreime, Schweizerdeutsch, Hochdeutsch, Englisch, Sätze, die über ganze Seiten fliessen, Sätze, die wie Sprachriffs aus des «Urmeers» (Un)tiefen herausragen, Begriffe wie dr Nöwö, ds Fiseli, dr Gaschpo und «weitere Spuren Napoleons», die in Grossmeers Sprachgebrauch auftauchen.

An den Bühnen Bern war er 2020/21 «Hausautorj», wohl so etwas wie Hausschreibkraft, schrieb als solche den «Sommernachtstraum» um und hatte alsbald mit neuen Stücken Premiere wie «Händel & Greta & The Big Bad Witch», Teil eins von de l’Horizons Septologie des «Posthumanistischen Theaters». Wie sieht es mit der Wiederverwertung seiner Texte aus? Inwiefern recyclet und erfindet er sich selbst literarisch neu bzw. passt sein Schreiben dem Zeitgeist an? Umfährt er Hindernisse, ohne sie umzufahren? Umschreibt er etwas, ohne es umzuschreiben? Ein Blick in Kims literarischen Werdegang gibt Einblick in den Umgang mit dem eigenen Textkorpus.

Laut Verlag und eigenem Bekunden soll Dominik Holzer als Kim de l'Horizon über zehn Jahre am «Blutbuch» gearbeitet und sich an diversen Literatur-Wettbewerben (Literarischer Monat, OpenNet Solothurner Literaturtage, Textstreich-Wettbewerb für ungeschriebene Lyrik) beteiligt haben.

Schon früh tauchte die Buche auf, erst marginal, dann immer mächtiger bis sie im «Blutbuch» zur Blutbuche mutiert. Ein Baum, der lange als stylish galt und in den Botanischen Gärten der Aristokraten und Nabobs aus aller Welt florierte, bis er sich auch in den Vorgärten der Spiesser wiederfand. Überdies ist auffällig, dass der Prolog im «Blutbuch» weitgehend dem Text entspricht, mit dem sich Kim del'Horizon 2020 an den Solothurner Literaturtagen beteiligt hat. Mit einschlägigen Anpassungen. Neben den inzwischen vertrauten Sprachbehauungen non-binärer Natur wird im «Blutbuch» durchwegs die integrative Funktion des missliebigen Personalpronomens «man» aufgekündigt. An seine Stelle tritt «mensch»; «jemand» wird gegen «jemensch» ausgetauscht, das gängige «niemand» weicht einem «niemensch». Schliesslich lässt sich sowas im Zeitalter digitaler Textverarbeitung locker und in Sekundenschnelle bewerkstelligen.
 
«Wie sehen Texte aus, wenn nicht ein menschliches Meistersubjekt im Zentrum steht und die Welt begnadet ins Förmchen goethet?» Gut getrötet, möchte mensch antworten und nachfragen, ob denn in Kim de l'Horizons genderfluidem Schreib-Universum das Fluidum nicht doch noch irgendwo ins Stocken gerät. Und siehe da … Wo alles fluid ineinander überfliesst, auch seine alten Texte in die neueren, wundert man sich, weshalb beim autofiktionalen Erzählfluss das Altern plötzlich stillsteht. Im Text von 2020 ist der Ich-Erzähler «26», im «Blutbuch» von 2022 «sechsundzwanzig». Da ist offensichtlich etwas - auch beim Lektorat - aus der Zeit gefallen. Also doch nicht alles ganz so fluid.

Wie weiter? Demnächst wird der Schweizer Buchpreis 2022 vergeben, auf dessen Shortlist einige den Konsens des Jurierbaren herausfordernde Schreibende stehen: Simon Froehling, Lioba Happel, Thomas Hürlimann, Thomas Rötlisberger und töröö!… Kim de l'Horizon. Es muss ja nicht wieder «Autorj» Kim den Preis davontragen, zumal er allmählich in Nöte geraten dürfte, wie sich die Dankeszeremonie jenseits alles Nonkonformen sonst noch performen liesse.

Aber selbst wenn… Es dürfte noch längst nicht alles im argen liegen. Hoppla, Fehler! Nach der neuen Rechtschreibung ist die Schreibweise «im Argen liegen» richtig. Die Schreibweise «im argen liegen» entspricht dem Stand der alten Rechtschreibung und sollte daher nicht mehr verwendet werden. Henusode

Archiv - © Urs Scheidegger 1995 - 2024

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