Texte, die vom Meer handeln, dürften so alt sein wie die Menschheit selber. Die biblischen Erzählungen von Noah und Jonas, Homers «Odyssee» und die mittelalterliche «wazzermære» lassen wir mal aussen vor. Ebenso Thomas Manns «Zauberberg», Hemingways Alten Mann, Kafkas Forderung in einem Brief an Oskar Pollak1904 «Ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns» und anderes mehr, das mittlerweile mit literarischem Anspruch unter Begriffen wie «Seeliteratur», «Meeresliteratur» oder «Seedichtung» versammelt und kategorisiert ist. Zurück also zu Kim de l'Horizons Meer-Geschichte – geschichtet aus allerhand Sedimenten, Riffs und Seemannsgarn.
Klar doch, Santiago de Compostela liegt nicht am Meer, einen gefühlten Tagesmarsch dürfte der ersehnte Endpunkt des Jakobswegs von der Atlantikküste entfernt liegen. Aber darum geht es nicht in de l'Horizons preisgekröntem Text; weniger geotopologische denn poetologische Erkenntnisse spielen eine Rolle. Dass bei der Titelfindung Franco Supinos «Solothurn liegt am Meer» eine Rolle gespielt haben könnte, ist möglich, aber eher unwahrscheinlich. Des Rätsels Lösung – Abrakadabra – dürfte der Blick auf einen Text näherbringen, als Kim de l'Horizon bereits 2015 linguistische Fingerübungen in die Tasten tippte – und einen Preis gewann.
Dagegen ist der aktuelle Text, den Kim de l'Horizon dem OpenNet-Schreibwettbewerb 2020 der Solothurner Literaturtage vorlegt, expliziter und rätselhafter zugleich. Expliziter wirkt er in den unzähligen, wie beiläufig und doch irgendwie kalkuliert daherkommenden Kürzestepisoden: Wie beispielsweise der Ich-Erzähler, 26jährig, in Zürich am Schreibtisch sitzt, von wo aus er die Buche im Nachbarsgarten sehen kann. «Ich schreibe. Und wenn ich nicht weiterkomme, treffe ich mich auf ein kurzes Sexdate, während dem ich meistens an nichts denke. Dann gehe ich wieder nach Hause, mit dem Samen noch in mir und dem Geruch von fremdem Mann an mir (…) dann gehe ich nochmals aufs Klo, um auch die restlichen Samen aus mir zu entlassen...» Nun ja, so genau dürfte es die überwiegend cis-hetero-dominierte Leserschaft denn auch nicht wissen wollen.
Sprachriff mit ungerundetem halboffenem Vorderzungenvokal
Rätselhaft, mitunter interessanter, deshalb aber nicht minder problematisch wird's später. Wenn in de l'Horizons durchgängig standarddeutsch gehaltenem Text Begriffe zu lesen sind wie «meine Meer», «Grossmeer», «Urmeer», «Urpeer», die für «Grossmère», «Urmère», «Urpère» stehen sollen, dann ist das auf den ersten Blick zwar originell, evoziert aber nicht nur schriftsprachliche, sondern auch lautliche Unstimmigkeiten. Das grapho-phonologische Konstrukt wird auch nicht stringenter, wenn nachgeliefert wird, dass in Kims Muttersprache, also Berndeutsch, «Meer» (IPA: [meːɐ̯]), «Urmeer» (übrigens auch «mehr») mit einem ungerundeten halboffenen Vorderzungenvokal ɛ gesprochen wird, der schon fast klingt wie «mère» (IPA: [mɛʁ]) oder «père» (IPA: [pɛʁ]).
Bodnant-Schneeballblüten, Hirsutismus, Foucault und Fotzelschnitten
Diese schriftsprachlich-phonetischen Ungereimtheiten sollen nicht darüber hinwegtäuschen, dass «Santiago de Compostela liegt nicht am Meer» kein guter Text sein soll. Schliesslich ist Kim de l'Horizon/Dominik Holzer gelernter Schriftsteller, bewegt sich quasi fliessend durch die unterschiedlichsten Textsorten und deren Begriffswelten. Neben winterblühenden Zierpflanzen wie Bodnant-Schneeballblüten, Foucault (Léon? Michel?), Hirsutismus und Fotzelschnitten («Es gibt kein hartes Brot, kein Brot ist hart») hält das von ihm beschriebene Universum auch ganze poetische Passagen vom Feinsten feil. Insbesondere dann, wenn er wortreich zu Tage fördert, was aus den Urtiefen menschlichen Empfindens als Sprachriff aufragend verbal nur schwer zu fassen ist – das erst recht auf ausgetrampelten Wegen, und sei's der Jakobsweg.
Als Beispiel sollen einige an seine «Grossmeer» gerichteten Exzerpte genügen: «…wir sprachen nie über Normalität, nie über Heteronormativität, Queerness, die sogenannte ‹dritte› Welt und die geheimen Geflechte der Pilze, die viel grösser und feiner sind als unsere Vorstellung, wir sprachen nie über all die Wege, die diese Welt bereit hält, uns bereit hält, um vor sich selbst davonzulaufen, die gewundenen Wege, die im Schatten grosser Pappeln liegenden Wege, die öden, endlosen Wege, die diese Welt umspinnen wie ein Faden einen Fadenknäuel umspinnt, aber wir sprachen über die Wege, die alle zusammen ‹Jakobsweg› heissen».
Anagrammierte Pseudonyme werden ananymiert
Zu sprechen wäre noch kurz über die Autorenfigur, die auch auf den Geburtsnamen Dominik Holzer hört(e). Ein Name, der sich – ein Pseudonym in Anagrammform wird zum Ananym – unter zahlreichen anderen auch als Kim de l'Horizon lesen lässt, was nicht nur modischer klingt, sondern auch weit exklusiver ist als der Geburtsname. Um die 30000 Leute tragen weltweit den Namen Holzer, davon um die 2000 allein in der Schweiz. Dagegen ist l'Horizon geradezu de luxe, de l'Horizon noch de luxer. Und marketingtechnisch gesehen hochwertiger.
Übrigens: Neu ist die Pseudonymisierung keineswegs. Der Geburtsname des Schriftstellers Jean Améry war Hans Mayer und die Schriftstellerin Marguerite de Crayencour nannte sich Marguerite Yourcenar. Weitere berühmte Anagramme (Pseudonyme) sind François Rabelais (Alcofribas Nasier), Boris Vian (Brisavion), Pascal Obispo (Pablo Picasso) etc.
Als Vater des Anagramms gilt irrtümlicherweise der Grammatiker und Dichter Lykophron aus Chalkis (Λυκόφρων ὁ Χαλκιδεύς; * um 320 v. Chr.; † nach 280 v. Chr.); er umschmeichelte den König Ptolemaios II. mit einem Gedichtvers, wobei er die Buchstabenfolge dessen Namens Πτολεμαῖος umwandelte in ἀπὸ μέλιτος (griechisch für «von Honig»). Aber bereits in Platons Κρατύλος findet sich das Anagramm «(H)éra – aér» – [griech. ἦρα ἀήρ] (Hera – Luft).
Neben Kim de l’Horizons «Santiago de Compostela liegt nicht am Meer» wurden beim OpenNet-Schreibwettbewerbs 2020 der Solothurner Literaturtage zwei weitere Preise vergeben. Ein – ob gewollt oder zufällig – weiteres meeraffines Sprachriff: «Peut-être la mer» von Cassiane Pfund. Preisgekrönt wurde auch «Wir nehmen die Rosen» von Clara A'Campo.
Die drei Gewinnertexte wurden von der Jury aus 168 eingereichten Arbeiten aus allen Landessprachen ausgewählt. Die Texte lagen der Jury (Simon Deckert, Susanne Schenzle, Verena Stössinger, Nathalie Garbely, Carlotta Bernardoni-Jaquinta und Bettina Vital) anonymisiert vor.
Der OpenNet-Schreibwettbewerb wird seit 2001 von den Solothurner Literaturtagen für Nachwuchsautoren ausgeschrieben.