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«Roma Maratona»: Ein Sprachriff von Jörg Peter mit seinem Romanerstling

Verfasst von Urs Scheidegger | |   Sprachriff

Mit «Roma Maratona» legt der Solothurner Jörg Peter seinen Romanerstling vor, ein in mancher Hinsicht bemerkenswertes Erzählwerk, das Erinnerungen wachruft an klassische Vorgaben aus der Weltliteratur, aber durchaus als eigenständiger Versuch bestehen kann.

Eine literaturkritische Bauernregel besagt: je marktschreierischer der Klappentext, desto vorsichtiger im Umgang mit dem Inhalt, auch mit demjenigen des Buches.
Jörg Peter, Jahrgang 1931, wohnhaft in Langendorf, von Beruf Zahnarzt, engagiert in der kantonalsolothurnischen Kulturförderung, kündigt seine erste Buchveröffentlichung mit dem nachgerade lyrischen Titel «Roma Maratona» bescheiden und sachlich zugleich an: «Auf der Strecke eines Marathons führen die Geschichten den Leser quer durch Rom, und in der Peterskirche wird ihm – aus einer ungewohnten Perspektive – sogar das Leben von Christine, der Königin von Schweden, erzählt» resümiert der Klappentext und sinniert weiter: «Wenn F. im Krankenhaus, wo er nach einem schweren Unfall liegt, von seinen Erlebnissen redet, bekommt man einen wirren Knäuel schwindelerregender Geschichten von «So-und-auch-Anders» zu hören … Das Wichtige sei eben nicht sichtbar, die Möglichkeit nämlich, in einer anderen Haut zu stecken, ein anderer zu sein – oder doch stets der gleiche?»
Mag das Wichtigste auf Anhieb auch nicht sichtbar werden, die Möglichkeit, in einer anderen Haut zu stecken jedenfalls scheint gegeben. Dem literarisch versierten Leser mit motivgeschichtlichen Details im Kopf und einer Reihe Klassiker im Regal nämlich fällt nacheinander auf und ein: Silitoe steckt den Rahmen, Kafka schwingt und Frisch mischt mit.
Ähnlich wie Frisch versucht Peter dem Problem des Identitäts- und Persönlichkeitsverlustes dadurch beizukommen, indem er spielerisch Varianten der Persönlich- und Wirklichkeitsbildung bis zum Verfremdungseffekt mit sprachlichen Mitteln durchexerziert. Diese aktive, von Sinnsuche gehetzte Lebensstimmung ist das Grundelement dieses als surrealistisch-kafkaesk zu bezeichnenden Erzählwerkes, das – bisweilen groteske Stoffe bevorzugend – visionäre und traumhafte Vorgänge in einem (mehr oder weniger) realen Handlungsablauf stellt, und bei allem differenzierten Sinngehalt und Gleichnischarakter in einer variantenreichen Sprache geschrieben ist.
Aber anders als Silitoe, der bei seinem monologisierenden Helden die Motorik des Denkens mit der des Langstreckenlaufs synchronisiert, wird bei Peter weniger mit der dampfenden Physis gedacht als bloss mit dem Gehirn. Mag sein, dass deshalb Peters ebenso eigenständige wie eigenwillige Mischung aus Frisch-Kafka-Silitoe und einer Prise Rom-Faszination über weite Strecken konstruiert wirkt. Die Nahtstellen sind zwar nicht gerade brutale Wechselbäder, aber auch nicht unbedingt Vorzeigemuster der Wohlverfugtheit. Das Ringen um die Verwandlung des Ferdinand Biling ist kopflastig, es wird mehr beschrieben als dass der Leser am Prozess teilhaftig oder buchstäblich in ihn hineingerissen würde. Mit einer Ausnahme allerdings: die eingangs erwähnte Christine-Episode ist ein Meisterstück, in der Durchführung ebenso wie im Entwurf, steht aber als Fremdkörper im Romanganzen.
Es macht den Anschein, als habe sich beim Autor während seines langen Berufslebens einiges in seinem literarischen Zettelkasten angesammelt, das nach dem Gastaufenthalt am «Instituto Svizzero di Roma» eruptiv wie konstruktiv ans Tageslicht befördert und zu einem Roman kompiliert wird nach dem Motto: Die permanente Verwandlung des Langstreckenläufers auf der Suche nach der Wirklichkeit und sich selbst.
Trotzdem haben wir allen Grund, der erzählerischen Ingenieurskunst des Jörg Peter mit Bewunderung zu begegnen sowie die Verkehrung seines existentiell-philosophischen Traktats in einen Roma Maratona zumindest als gelungenes Aperçu zu interpretieren: Als reifes Gesellenstück eines Autors, der assoziationsreicher schreibt, als es bei so manchen Erstlingswerken von anderen Autoren der Fall ist.
Besondere Erwähnung verdient die Aufmachung des Bandes. Nicht nur hat Jean Tinguely zur Gestaltung des Schutzumschlages eine (mit Echtheit verbürgte) Zeichnung beigesteuert, im Sinne von Auflockerungselementen laufen einem beim Lesen auf Schritt und Tritt auch immer wieder Marathonläufer über den Weg.
(Jörg Peter, Roma Maratona, Zytglogge Verlag Bern, 217 S.)

Solothurner Zeitung, 30. November 1991

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