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Gabriel García Márquez neuer Roman: detailverliebt und cholerisch grundiert

Verfasst von Urs Scheidegger | |   Sprachriff

Er arm, sie reich, gemeinsame Zukunft unterbunden. Aber ihre Liebe kennt keine Grenzen, schon gar keine zeitlichen. Die Liebesgeschichte von Kindesbeinen (Florentino 18, Fermina 13) bis ins hohe Alter spielt über ein halbes Jahrhundert in der Karibik zwischen 1878 und 1930. Gabriel García Márquez kredenzt mit «Die Liebe in den Zeiten der Cholera» ein Werk poetischer Kapriolen mit zuweilen ausufernden Fantasien voller bizarrer Szenarien.

«Er war der erste Mann gewesen, den Fermina Daza urinieren hörte. Sie hörte ihn in der Hochzeitsnacht, in der Kabine des Schiffs, das sie nach Frankreich trug, während sie seekrank darniederlag, und das Tosen seines Pferdewasserfalls erschien ihr so machtvoll und so herrisch, dass…  »
Na ja, so genau wollten wir ja auch nicht eingeführt werden in Dr. Urbinos «herrische» Pisseria durch Márquez' Sinneseindrücke aus dem Bannstrahl der Miktion. Aber so ist er halt, der Gabriel García, mitunter gar detailversessen. Exakt 51 Jahre, 9 Monate und 4 Tage lässt er Florentino Ariza auf seine grosse Liebe Fermina Daza warten. Nachdem sie doch den Herrn Doktor aristokratischer Herkunft geheiratet hatte, bleibt Florentino nichts anderes, als seine Zeit «wie ein Sperber auf Hühnerfang» mit Ausschau auf die «verwaisten Nachtvögelinnen» zu vertreiben. Okay, immerhin bringt es Florentino Ariza in all den Jahren vom armen Telegrammboten zum Direktor der Karibischen Flussschifffahrtsgesellschaft. Hat aber auch Zeit, «25 Hefte mit 622 Eintragungen über dauerhafte Liebschaften» zu führen, ehe sein Momentum doch noch kommt und er seiner zeitlebens glühend verehrten Fermina, «untreu, aber nicht treulos», noch am Abend der Beerdigung seines Dauerrivalen Dr. Urbino von neuem «ewige Treue und stete Liebe» schwört. Wie kommt‘s? Nun, der inzwischen ebenfalls greise Herr Doktor, dessen «Pferdewasserfall» von einst sich mittlerweile «in ein eigenwilliges Brünnlein verwandelt» hat, brach sich beim Versuch – shit happens – , den entflogenen Papagei vom Mangobaum zu holen, das Genick. Und Ferminas Reaktion? In ihr reift nach längerem Zaudern die Einsicht, «dass es für ihre Sehnsüchte einer einsamen Witwe kein anderes Heilmittel gab, als die Zugbrücke für ihn herunterzulassen». Für ihn, gemeint ist Florentino, der damit sein Lebensziel erreicht. Gemeinsam befahren sie auf der «Nueva Fidelidad», dem Traumschiff von Arizas Kompanie, den Magdalena-Strom in ständigem Hin und Her, Flussauf, Flussab. Dabei ist einzig der ungeduldige Kapitän, der nach gehisster Choleraflagge – es gibt kein Zurück – irgendwann nachfragt: «Und was glauben Sie, wie lange wir dieses Scheiss-Hin-und-Zurück durchhalten können?» Florentino Arizas Antwort, «seit dreiundfünfzig Jahren, sieben Monaten und elf Tagen und Nächten auf die Frage vorbereitet»: «Das ganze Leben». Womit der Roman endet.

Blumige Bilder bis verschnulzter Exstatik
Soweit die Protagonisten des Buches und deren (Liebes)leben im Zeitraffer vor einer Kulisse, in der Florentinos «ausgedörrte Stadt seiner nächtlichen Ängste und der einsamen Lüste der Pubertät, wo die Blumen oxydierten und das Salz sich zersetzte, eine Stadt, der in vier Jahrhunderten nicht mehr eingefallen war, als langsam zwischen welkem Lorbeer und fauligen Gewässern zu altern».
Blumige Bilder, skurrile Einfälle, verquere Formulierungen, verschnulzte Exstatik, passionierte Dauererregung, schmachtende Glückseligkeit: Bereits 1982 hat Urs Scheidegger im Kommentar zur Literatur-Nobelpreis-Verleihung an Márquez darauf hingewiesen, dass derlei Ingredienzen vielen Lesern germanischer Zunge den Zugang zur romanischen Literatur nicht eben leicht machen. Aber es gilt auch zur Kenntnis zu nehmen, was Hugo Loetscher zur lateinamerikanischen Literatur im allgemeinen und zu Gabriel García Márquez' Roman im besonderen bemerkte: «Keinen wie den lateinamerikanischen Schriftstellern – und dem ausgezeichneten Kolumbianer ganz besonders – gelinge es, in ihren Werken Fiktion und Betroffenheit zu verbinden».

Cholera, cholerisch, Koller
Bliebe noch die Frage, was es mit der Cholera auf sich hat, von der im Buchtitel prominent die Rede ist, die im Text indes allenfalls marginal in Erscheinung tritt. Cholera, cholerisch, Koller. Es ist durchaus möglich, dass Cholera in Márquez' Roman als pandemischer Befund gar nicht so sehr von Interesse ist, zumal Florentinos cholerisches Verhalten im übertragenen Sinn unmissverständlich an (Liebes-)Koller gemahnt. Und überdies die etymologischen Wurzeln der Cholera als Sprachriff bis in die Gegenwart ragen: nämlich über die indogermanischen Pfade von altgriechisch χολή (Galle, Hass, Zorn), (χολερικός) über lateinisch cholericus, mittellateinisch cholericus – bis heute als Sammelbegriff für verschiedene Formen psychischer Störungen im Wortschatz diverser moderner Sprachen.

Gabriel García Márquez, Die Liebe in den Zeiten der Cholera, Kiepenheuer & Witsch, Köln, 1987. ISBN 3-462-01804-3 (Übersetzung Dagmar Ploetz)

Gabriel García Márquez, Die Liebe in den Zeiten der Cholera, Kiepenheuer & Witsch, Köln, 1987. ISBN 3-462-01804-3 (Übersetzung Dagmar Ploetz)
Buchdeckel zu Gabriel García Márquez, Die Liebe in den Zeiten der Cholera, Kiepenheuer & Witsch, Köln, 1987. ISBN 3-462-01804-3 (Übersetzung Dagmar Ploetz)

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