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Geschichten über Geschichten: Bichsels Poetik-Vorlesungen sind in Buchform erschienen

Verfasst von Urs Scheidegger | |   Sprachriff

Weit über tausend Literaturinteressierte sollen sich an der Frankfurter Uni zum Abschluss von Peter Bichsels Poetik-Vorlesungen eingefunden haben. Nun sind Bichsels Poetik-Vorlesungen beim Luchterhand-Verlag unter dem Titel «Der Leser. Das Erzählen» in Buchform erschienen.

Unsere pietätarme Zeit, in der herkömmliches Brauchtum allenthalben bedroht ist — man denke dabei nicht nur ans Volkslied, die Hausmusik, die bunten Trachten, das Wandern zu Fuss, die besinnliche Freude am Kleinen und Unscheinbaren —, sie scheint auch das Erzählen aufs Altenteil der Kalendergeschichten und Schulbücher gesetzt zu haben. Es liegt uns fern, Peter Bichsel nach der Devise «volkstümlich-schlicht und grad drauflos» schon heute einen Platz in der Ahnengalerie solothurnischer Heimatdichter reservieren zu wollen. Daran hätte der Luzerner und vormalige Stadtschreiber von Bergen-Enkheim nun wirklich keine Freude.

Einen gemeinsamen Wesenszug indes etwa mit einem Josef Reinhart kann auch der Peter Bichsel nicht verleugnen: Er erzählt furchtbar gerne, auch wenn über die Art und Weise des Erzählens kein Konsens herrschen dürfte. Aber immerhin — er erzählt gerne. Wie sonst liesse sich erklären, dass Peter Bichsel — anders als viele seiner Schriftstellerkollegen, die durch eine fast unheimliche Regelmässigkeit neuer Produktionen immer wieder von sich reden machen — sich mehr als jene auf die Fortsetzung der Tradition des Erzählens konzentriert und selbst das Geschichtenerzählen zum Thema seiner Poetik-Vorlesungen in Frankfurt erhoben hat? Wie anders sonst auch liesse sich erklären, dass keiner seiner noch so berühmten Kollegen wie Uwe Johnson, Adolf Muschg, Peter Rühmkorf, Martin Walser oder Günter Kunert sich eines so grossen Zulaufs im grössten Hörsaal der Uni Frankfurt erfreuen konnte wie Bichsel? 1500 Zuhörer sollen es am Abschluss der Poetik-Vorlesungen gewesen sein, und man sprach gar davon, dass es seit Adorno noch nie einen so grossen Andrang gegeben habe.
Der Luchterhand-Verlag hat nun Bichsels Poetik-Vorlesungen in Buchform herausgegeben. Mit «Der Leser. Das Erzählen» ist das 85 Seiten starke Bändchen überschrieben und damit wird auch schon jener Bereich abgesteckt, dessen sich Peter Bichsel in seinen fünf Vorlesungen in der Zeit vom 12. Januar bis 9. Februar 1982 angenommen hat.

Geschichte und Wahrheit
Bichsel hebt mit seiner Vorlesungsreihe dort an, wo gewöhnlich jeder literarische Kursus seinen Lauf nimmt: beim Wort und der Differenzierung zwischen dem, was es ist, bedeutet und bezeichnet. Der Sprung vom Wort zum Satz ist ebenso bekannt wie jener von der Geschichte zur Wahrheit. «Während ich Geschichten erzähle, beschäftige ich mich nicht mit der Wahrheit, sondern mit den Möglichkeiten der Wahrheit», greift Bichsel ordnend ins Verhältnis zwischen den beiden Begriffen Geschichte und Wahrheit ein und fährt dann fort: «Solange es noch Geschichten gibt, solange gibt es noch Möglichkeiten. Deshalb basiert die Frage an den Geschichtenerzähler, ob seine Geschichte wahr sei, auf zwei Irrtümern. Der erste Irrtum: Es gibt keine Geschichte, die nicht Wahrheit enthalten würde…
Der zweite Irrtum: Sprache kann nie wiedergeben, was eigentlich ist, sie kann Realität nur beschreiben…» Eine Erkenntnis, an der Platon zu seiner Zeit seine wahre Freude gehabt hätte.

In einer weiteren Vorlesung wendet sich Bichsel dem Lesen zu, das er sich als einen Akt individueller Freiheit und unter Einhaltung des ersten auch als privaten Genuss auslegt, wobei stets vor Augen zu halten sei, «dass die Literatur nicht das Originalerlebnis meint, sondern die Reflexion, nicht die Dinge beschreibt, sondern beschreibt, was es von den Dingen zu sagen gibt. Der Entscheid, lesend zu leben, kann deshalb auch der Entscheid gegen das originale Leben sein, ein Entscheid für das sekundäre Leben», wie Bichsel sich ausdrückt.

Narrative Absichten
Peter Bichsel hat, wie er selbst formuliert, mit seinen Vorlesungen keine pädagogischen, sondern narrative Absichten verfolgt. Recht so. Man hat auch keine Mühe, ihm dies abzunehmen, zumal er selbst durch die Form seiner Vorlesungen das überzeugendste erzählerische Beispiel geliefert hat: kaum Textanalysen, keine Germanistengelehrtheit, keine undurchschaubare Fachterminologie, sondern Geschichten über das Geschichtenerzählen, den Leser und das Leben mit Literatur, dem sekundären Leben. Auch das ist eine Art, über sich und die eigenen Geschichten reflektierend Zugang zu finden zur Literatur und deren Funktion. Und es ist nicht die schlechteste Art, wenngleich Bichsel zuweilen mit Untertönen für Misstöne sorgte.

(Peter Bichsel, Der Leser. Das Erzählen. Frankfurter Poetik-Vorlesungen. Sammlung Luchterhand 1982.)

Artikel vom 19. Oktober 1982 in der Solothurner Zeitung/Berner Rundschau,Langenthaler Tagblatt

Peter Bichsel.
Peter Bichsel.

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