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Von ungeheurem Ungeziefer und seltsamen Vögeln – ein zoologisch-literarischer Rundgang kafkaesker Dimension

Verfasst von Urs Scheidegger |

Tierisch metaphorisch ging es bei Franz Kafka schon immer zu und her. Ausgehend von seinem Namen führt unsere kafkaeske Tour d'Horizon über den berühmt-berüchtigten ersten Satz eines literarischen Leuchtturms deutscher Sprache hin zum seltsamen Hybridwesen in einem unvollendeten Spätwerk. Dieser wunderliche «Bau» wurde denn auch mit etwelchem Aufwand mehr schlecht als recht verfilmt.

«Ich bin ein ganz unmöglicher Vogel (...). Ich bin eine Dohle – eine kavka. (...) Verwirrt hüpfe ich zwischen den Menschen herum.» So viel zu Kafkas animalischem Wesen, nachzulesen in Gustav Janouchs «Erinnerungen» an Kafka. Eine Art unmöglicher Vogel war wohl auch Gustav Janouch, tschechischer Komponist, Übersetzer, Schriftsteller, Hochstapler und Trittbrettfahrer des Kafka-Booms aus den 1950/60er Jahren. Weitere komische Vögel in Alena Wagnerová 04.11.2006, NZZ, Selbstverständlich haben derlei Machenschaften den Bekanntheitsgrad Kafkas weniger behindert denn befördert. Im Jahr 2015 sind um die 20 Publikationen allein zum Thema «Kafka und seine Tierwelt» erschienen. Fünf Jahre zuvor wurden in Kafkas Werk mehr als sechzig verschiedene Tierarten gezählt, wie einer akribischen Zusammenstellung von Donna Yarri entnommen werden kann. Erzählungen, Romanen, aber auch in seinen Briefen tummeln, wobei zu den real existierenden Hunden, Pferden, Affen, Kamelen, Mäusen, Vögeln usw. sich auch wunderliche Mischwesen gesellen. Darunter der dozierende Affe Rotpeter («Bericht für eine Akademie»,) die singende Maus Josefine,ein forschender Hund,ein blutrünstiger Geier, oder wilde Pferde ohne Hals und Kopf. Dazu auch «Ein Wunsch, der ins Leere geht» von Heinrich Detering.

«Die Verwandlung» in ein «ungeheures Ungeziefer»
Und nicht zuletzt wäre da Franz Kafkas literarisches Flagschiff mit dem Handlungsreisenden Gregor Samsa. «Die Verwandlung» (1916) beginnt mit einem der berühmtesten Eröffnungssätze der Literatur des 20. Jahrhunderts: «Als Gregor Samsa eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich in seinem Bett zu einem ungeheuren Ungeziefer verwandelt.» Da wird zunächst nicht konkretisiert, als was Gregor  genau in Erscheinung tritt; zumal das alliterierende Begriffspaar «ungeheures Ungeziefer» mit der auffälligen doppelten Verneinung keiner zoologischen Spezies zuzuweisen ist. Interessant sind Übersetzungen in andere Sprachen. Joyce Crick beispielsweise, eine der besten englischen Kafka-Übersetzerinnen, gibt das «ungeheure Ungeziefer» als «some kind of monstrous vermin / irgendeine Art monströses Ungeziefer» wieder. Eine weitere mögliche Übersetzung, zumindest für Leser von Science-Fiction wären «bug-eyed monster / Monster mit Käferaugen». Erst viel später identifiziert die Putzfrau Gregor unvorsichtigerweise als «dung-beetle / Mistkäfer», die denkbar unappetitlichste Form eines Käfers. Translating Kafka: Will Self, Anthea Bell, Joyce Crick, Karen Seago and Amanda Hopkinson

Monomanischer Monolog eines Ich-Erzählers in Kafkas «Bau»
Ein noch seltsameres Wesen macht sich im «Bau» zu schaffen. Bis zu seinem Tod 1924 schrieb Franz Kafka darin über ein Wesen, das mit wachsender Besessenheit sich in einem unterirdischen Labyrinth vor Feinden zu schützen versucht. «Ich habe den Bau eingerichtet, und er scheint wohlgelungen.» Mit diesen Worten beginnt die Erzählung aus Franz Kafkas Nachlass, deren Schluss verschollen ist.
Das Wesen im «Bau» ist ein nicht näher umschriebenes «Tier», das sich zunächst sehr zufrieden mit der Anlage seines labyrinthischen Baus gibt, bald aber ins Grübeln gerät.

Schon Orson Welles, Steven Soderbergh und Michael Haneke haben sich von Kafkas Werken zu Filmen inspirieren lassen. Der mit einem Kurzfilm-Oscar prämierte Regisseur Jochen Alexander Freydank («Spielzeugland») versuchte ihnen nachzueifern und inszenierte 2014 Kafkas als unverfilmbar geltende Tiergeschichte «Der Bau» als Midlife-Crisis eines Endvierzigers, der für sich und seine Familie eine luxuriöse Wohnung erworben hat und ganz allmählich von der Angst zerfressen wird, all das werde vielleicht nicht von Dauer sein. Doch Freydanks Inszenierung verliert sich bei ihrer Deutung in Klischees, statt einen neuen Blick auf den Text zu eröffnen. So muss man sich fragen, ob die menschgewordene Perspektive, aus der Protagonist Axel Prahl die Kafka-Texte in die Videokamera mehr nuschelt als spricht, überhaupt etwas taugt. Ausserdem überlädt Jochen A. Freydank schon sein Script mit allerlei Interpretationen der literarischen Vorlage und entsprechendem in die Gegenwart übertragenem Handlungsbeiwerk. Letztendlich dient ihm Kafkas «Der Bau» als Vorlage für eine Art allegorische Endzeitstory. Wobei nicht ganz klar wird, ob er damit einen psychopathogenen Einzelfall – quasi als Repräsentanten der New Economy – diagnostizieren oder gleich eine zivisilatorische Fehlentwicklung als ganzes einlochen möchte.

Szenenbild aus Kafkas «Bau»-Verfilmung von Jochen Alexander Freydank.
Szenenbild aus Kafkas «Bau»-Verfilmung von Jochen Alexander Freydank.
Szenenbild mit Axel Prahl aus Kafkas «Bau»-Verfilmung von Jochen Alexander Freydank.
Szenenbild mit Axel Prahl aus Kafkas «Bau»-Verfilmung von Jochen Alexander Freydank.
Szenenbild mit Axel Prahl aus Kafkas «Bau»-Verfilmung von Jochen Alexander Freydank.
Szenenbild mit Axel Prahl aus Kafkas «Bau»-Verfilmung von Jochen Alexander Freydank.
Szenenbild mit Axel Prahl aus Kafkas «Bau»-Verfilmung von Jochen Alexander Freydank.
Szenenbild mit Axel Prahl aus Kafkas «Bau»-Verfilmung von Jochen Alexander Freydank.

Archiv - © Urs Scheidegger 1995 - 2024

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