Startseite | News | Suchen | Archiv | Sprachriff | About

Archiv Artikel - Essays - Sprachriff

Exponentielles Anschwellen des Kafkaesken: Ungebrochene Publikatiosflut im Gedenken an Kafkas 100. Todestag

Verfasst von Urs Scheidegger |

Kaum ein deutschsprachiger Schriftsteller der Moderne wird weltweit so stark beachtet wie Franz Kafka, in den USA genauso wie in China. Kaum ein anderer Autor der Weltliteratur hat eine vergleichbare Flut von Interpretationen ausgelöst. Im Jahre seines 100. Todestages schwillt die Eventflut exponentiell an und nimmt geradezu kafkaeske Züge an.

Stephen King soll auf die Frage, wie er schreibe, geantwortet haben: ein Wort nach dem anderen. Der Interviewer, so es denn King nicht selbst war, soll sprachlos gewesen sein. Dabei hätten sich einige Folgefragen geradezu aufgedrängt: Welche Wörter? Wieviele? Gesprochen? Handgeschrieben? Rechtshändig? Von Links nach Rechts? Getippt? Mechanisch? Elektronisch? Diktiert?
Dieses Verfahren liesse sich auf alle Autoren und deren Elaborate anwenden, auch auf eine literarische Ausnahmeerscheinung des 20. Jahrhunderts, Franz Kafka. Die rund 4000 Wörter seiner Novelle «Das Urteil» soll er (laut Tagebucheintrag vom 11. Februar 1913) in der Nacht vom 22. auf den 23. September 1912 aneinandergereiht haben. Handschriftlich, von links nach rechts, dicht gedrängt. Aber darum soll es hier nicht gehen. Vielmehr um den Kafka-Kult, der dieses Jahr einmal mehr keine Krise kennt.

Ein weiteres Kafka-Jahr steht an, am 3. Juni 2024 vor hundert Jahren starb der Schriftsteller aus Prag. Ende März wird Das Erste eine sechsteilige Serie über Franz Kafka ausstrahlen, für die Daniel Kehlmann das Drehbuch schrieb und Reiner Stach als Berater engagiert wurde. Überall Kafka-Ausstellungen und Theaterinszenierungen, von Monat zu Monat werden es mehr.

Kafka-Atlas, Kafka-Interview, Kafka-Nichtversteher
Der Kafka-Atlas ist ein Projekt, das auf der Basis von Umfragen die internationale Rezeption Kafkas kartografiert und auch Übersichtsartikel zu einzelnen Ländern bietet. Initiator ist der Wiener Literaturwissenschaftler Ekkehard W. Haring. Unter dem Titel «Gott will nicht, dass ich schreibe. Ich aber, ich muss» hat das SZ-Magazin mit Franz Kafka posthum ein Interview gebastelt; ein Konstrukt, in dem alle Antworten aus Kafkas Werken, Tagebüchern, Briefen und Notizen stammen bzw. Fragen gesucht wurden, die auf Kafka-Zitate als Antworten passen könnten.

Eine andere Sicht hat der tschechische Bildhauer Jaroslav Róna (* 27. April 1957 in Prag), der für zahlreiche Statuen im öffentlichen Raum bekannt ist. So auch durch das 2003 geschaffene Franz-Kafka-Denkmal in Prag, inspiriert von der «Beschreibung eines Kampfes», einer zwischen 1903 und 1907 entstandenen Kafka-Erzählung.

Róna zufolge hat Kafka «…gesucht, was hinter den Worten steckt. Das Schreiben sah er als unvollkommene Stütze, um das auszudrücken, was er mitteilen wollte. Davon zeugt auch die Tatsache, dass sich in seinem Tagebuch bis zu zehn Versionen eines Satzes finden lassen…»

Bereits im November 2009 hat sich der Germanist Peter von Matt gefragt, ob es überhaupt sinnvoll sei, Kafka verstehen zu wollen. Um gleich auf die Essenz von Kafkas Existenz zu verweisen; nämlich darauf, dass Kafka weniger um des Geschriebenen als des Schreibens willen lebte.

Dabei war Kafka nie professioneller Schriftsteller, wollte es gar nicht sein, soll sogar – ähnlich wie Rosemary Tonks – die Vernichtung des Werks angeordnet haben.

Was aber hat Kafka dazu bewogen, testamentarisch die Vernichtung seiner Manuskripte, Tagebücher und Briefe anzuordnen? Darüber gibt es viele Vermutungen.
Kafka wollte zweierlei sicherstellen: Zum einen sollten private Aufzeichnungen und Mitteilungen nicht in fremde Hände gelangen, zum anderen sollte die Veröffentlichung unvollendeter Werke unterbunden werden.

Diese beiden testamentarischen Verfügungen – die erste wahrscheinlich vom Herbst/Winter 1921, die zweite vom 29. November 1922 – fand Max Brod nach dem Tod des Freundes unter dessen Papieren. Brod hat sich bekanntlich nicht an diese Verfügungen gehalten. Weniger bekannt ist, dass ausgerechnet die beiden Testamente selbst die ersten Texte sind, die Brod nach Kafkas Tod aus dessen Nachlass am 17. Juli 1924 in der «Weltbühne» veröffentlichte.

Prometheus in Variationen
Aber stand Kafka bei der Vernichtung seiner Manuskripte nicht noch etwas Tiefgründigeres Pate, etwa «Prometheus» aus dem dritten Oktavheft? Bei «Prometheus» handelt es sich um ein selten interpretiertes Prosastück, das 1918 entstanden ist, und 1931 erstmals veröffentlicht wurde. Es umfasst vier Variationen über das Schicksal von Prometheus, der mythischen Figur aus der griechischen Antike.

• In der ersten Variante hat Prometheus die Götter verraten und wird dafür an den Fels geschmiedet. Ein Adler frisst von seiner immer weiter wachsenden Leber.

• In der zweiten Variante ist vom Schmerz des Prometheus die Rede, der sich sich vor den zuhackenden Schnäbeln immer weiter in den Fels presst und mit ihm verschmilzt.

• Als Drittes kommt die Zeit und das allgemeine Vergessen der ganzen Sage zur Sprache.

• In Kafkas vierter Variation werden die Götter, der Adler und selbst die Wunde «des grundlos Gewordenen müde».

Was bleibt, ist die Existenz des Felsengebirges.

Eigentlich sind es keine Variationen, sondern vielmehr zeitliche Ausdehnungen der Ursprungssage aus der Vorzeit bis in ferne Zukünfte. Und mit «fern» sei auch fern gemeint – gemessen in geologischen Zeitskalen (Äonen, Äras, Perioden, Epochen und kleineren Untereinheiten). Denn nur in solchen Dimensionen lässt sich das Geschehen auf der Oberfläche jener Kugel beschreiben, auf der vor langer Zeit eine Spezies von den Bäumen gestiegen ist, sich im aufrechten Gang übte, sich selbst zur Krone des Schöpfung ernannte, um als solche in ihrer Selbstüberschätzung die Existenzgrundlage eigenhändig zu ramponieren. Nun ja. Mutter Erde wird’s überleben. Im besten Fall wird sie ein paar Millionen Jahre brauchen, bis sie in den verbleibenden 30% Restzeit (1,75 bis 3,25 Milliarden Jahre) wieder etwas Menschenähnliches hervorbringt. Bevor auch die 1021 Atome der Erde mit den 1089 des aktuell sichtbaren Universums verschmilzen.

 

 

 

 

 

 

Franz Kafka (1923)
Franz Kafka (1923)
Fortschritt Homo erectus / neanderthalensis / sapiens / oekonomicus / deus - quo vadis?
Fortschritt Homo erectus / neanderthalensis / sapiens / oekonomicus / deus - quo vadis?

Archiv - © Urs Scheidegger 1995 - 2024

***