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Miranda Frickers Versuch, Ungerechtigkeiten «epistemisch» zu Leibe zu rücken

Verfasst von Urs Scheidegger |

Dass Wissen und Macht irgendwie korrelieren, ist eine (philosophische) Binsenweisheit. Umso erstaunlicher ist, dass sich eine analytisch geschulte Philosophin des Themas im Grenzbereich Ethik-Epistemologie annimmt und unter dem Begriffspaar «epistemische Ungerechtigkeit» auf den Punkt zu bringen versucht. Was nicht unproblematisch ist.

Bei «epistemischer Ungerechtigkeit» («Epistemic Injustice», so der Originaltitel) handelt es sich salopp gesprochen um eine Art verborgene Diskriminierung unter Einbezug von Vorurteilen. Gemäss Miranda Fricker stellt sich «Epistemische Ungerechtigkeit» dann ein, wenn beispielsweise einer Gruppe, Gruppierung von Menschen (Frauen, migrantischen Gemeinschaften oder der Bevölkerung ganzer Kontinente) die Fähigkeit abgesprochen wird, verlässliche Wahrnehmungen mitzuteilen, geschweige denn relevantes Wissen überhaupt zu erlangen.

Moral und (analytische) Erkenntnistheorie koordinieren
Miranda Fricker will in ihrem Buch beispielhaft vorführen, wie auch die analytische Erkenntnistheorie (auch Epistemologie oder Gnoseologie) ihren Beitrag leisten kann, die mannigfaltigen Ungerechtigkeiten auf dieser Welt zu analysieren. Sie möchte das Nachdenken über ethische Begriffe wie Moral und das Nachdenken über Erkenntnis auf integrale Weise miteinander koordinieren, ohne dabei auf die (analytische) Erkenntnistheorie und deren begriffliches Arsenal zu verzichten. Konkret besteht ihre Vorgehensweise darin, die aus der Erkenntnistheorie stammenden Werte wie «Wahrheit» oder «Wissen» um Aspekte der Moral zu ergänzen, irgendwie «soll-mässig» zu markieren.

Erinnerung an Norpositivismus und Logischen Empirismus
Das erinnert irgendwie an Probleme, wie sie in den siebziger Jahren im Umfeld des Neopositivismus (auch Logischer Empirismus, Logischer Positivismus) oder der Generativen Transformationsgrammatik diskutiert wurden.

Der Mensch weiss sehr viel weniger als dass er glaubt
In unserer Gesellschaft sind nicht nur die materiellen Verhältnisse, die zwischenmenschlichen und sozialen Beziehungen, die Arbeitsstellen, die politischen Beteiligungsmöglichkeiten von Ungerechtigkeiten geprägt, sondern auch das Wissen. Genauer gesagt: die Art und Weise, auf die wir Wissen erwerben und einander zuschreiben. Wissen ist in diesem Zusammenhang insofern ein problematischer Begriff, als der Mensch sehr viel weniger weiss als dass er glaubt. Wissen in einem streng epistemologischen Sinn ist eine Reduktion auf Abstracta wie Wahrheitsgehalt, Gesetze der Logik ect, während Glauben auf Plausibilität beruht.

Letztendlich stellt sich die Frage: Was hilft es, auf einen gewaltigen, auf abstrakten Begriffen zum Zwecke der Wahrheitsfindung beruhenden Apparat zu setzen, dessen Realität permanent durch die 6000 natürlichen Sprachen überholt, ja geradezu überrolt wird?

 

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