Digitales Nirwana oder neues Lernen?

«Wissensstar» Urs W. Scheidegger, Solothurn, zum Projekt «Noisy98» des GDI

Urs W. Scheidegger ist Leiter Neue Medien der Vogt-Schild/Habegger Medien AG in Solothurn (Herausgeberin dieser Zeitung), und er ist einer von 300 «Wissensstars» aus Österreich, Deutschland und der Schweiz, die das Gottlieb Duttweiler Institut in Rüschlikon für das Projekt Noisy98 ausgesucht hat. «Noisy»? «Noisy» will dem «neuen» Lernen im weltweiten Netz auf die Spur kommen.


Mit Urs W. Scheidegger

sprach Angelica Schorre


Bei dem Projekt Noisy98 geht es um das Aufspüren neuer Wissens- und Lernformen im WWW (World Wide Web). Mit traditionellen Wissens- und Lernformen ausserhalb des Webs ist in Zukunft also kein Staat bzw. kein Unternehmen mehr zu machen?

Wäre dem so, dann wäre dieser Planet arm dran. Zum einen gilt es zu bedenken, dass längst nicht die ganze Menschheit im Internet hängt. Wenn's hochkommt, sind's gerade mal zehn Prozent. Und erst noch konzentriert auf die hochentwickelten Industrienationen. Zum andern unterscheiden sich traditionelle Wissens- und Lernformen gar nicht so sehr von der Wissensaneignung durchs Web. Ich würde mal - über den Daumen gepeilt - sagen: beim Erwerb von Wissen sind 90 Prozent Knochenarbeit, der Rest Inspiration. Das war schon immer so und wird wohl auch so bleiben.


«Beim Erwerb von Wissen ist 90 Prozent Knochenarbeit»

Urs W. Scheidegger

Unabhängig davon, ob Pythagoras seine Erkenntnis in den Sand kritzelt oder der Homo electronicus des ausgehenden 20. Jahrhunderts sein elektronisches Ebenbild digitalisieren lässt wie z. B. beim Genom-Projekt.

Wie eignet man sich neu im Web Wissen an; wie kann man so mit den «globalen Wissensströmen» mithalten, im erforderlichen Tempo mitschwimmen?

Das ist so eine Sache. Es gibt wohl kaum ein Thema, das im Internet nicht abgehandelt wird. Die Frage ist nur, wie komme ich an brauchbare Infos heran? Die unzähligen Suchmaschinen sind ein Tropfen auf den heissen Stein und liefern oft kuriose Resultate. Wer sich da trotzdem noch zurechtfindet und sich nicht vom Hundertsten ins Tausendste verzettelt, darf sich glücklich schätzen. So gesehen ist der routinierte Surfer allein schon eine Art Knowledge Worker.

Was zeichnet denn einen Wissens-Arbeiter, einen Knowledge Worker aus?

Zu einem Kowledge Worker gehört sicher eine grosse Vertrautheit mit der Materie. Und bei der «Materie» Internet handelt es sich überwiegend um computerspezifische Dinge wie Hardware- oder Software-Entwicklung. Im übrigen sind gerade in diesem Bereich die Knowledge Worker schon länger am Werk, wenn ich da an die grosse Linux-Gemeinde denke. Linux ist ein Betriebssystem, das seine permanente Weiterentwicklung samt Anwendungen weitgehend den Freaks im Internet verdankt.

Da Sie einer der 300 Wissensstars von Noisy98 sind, sind Sie bereits ein Wissensarbeiter?

Wissensstar? Meine Güte, zum Starwesen gehört doch, dass eine bestimmte Masse einem Individuum huldigt, das sich durch besondere Fähigkeiten auszeichnet. Im Showbiz wird das ja täglich durch die Massenmedien bis zum Abwinken vorexerziert. Die Masse, die mir huldigt, wäre mir bisher nicht aufgefallen. Nein im Ernst, ich bin kein Star und will auch keiner sein. Schon eher ein Wissensarbeiter vom Schlage eines Tim Paterson oder James Gosling.

Tim Paterson? James Gosling?

Ohne Tim Paterson wäre die Vision von Microsoft-Chef und Multimilliardär Bill Gates - Microsoft-Software auf jedem PC - ein Traum geblieben. Mit seinem PC-Betriebssystem DOS legte Paterson, oft «Vater von DOS» genannt, vor bald 20 Jahren das Fundament für den phänomenalen Erfolg von Microsoft. Heute bescheidet sich Paterson bei Microsoft damit, Bugs zu fixieren.

James Gosling war zu Beginn der neunziger Jahre der Kopf des kleinen Entwicklungsteams bei Sun Microsystems, dem der grosse Wurf von Java, der Programmiersprache im Internet, geglückt ist. Zwei total «emotional intelligente» und bescheidene Typen.

Das heisst, Sie sind «emotional intelligent»?

Der Mensch lebt ja nicht vom Cyberspace allein. Noch gilt es einige durchaus irdische Bedürfnisse zu befriedigen. Heute sind ja Computer zu vielem in der Lage. Aber so sehr die Rechenknechte auch zu durchaus erstaunlichen Leistungen fähig sind, so wenig ist dadurch ein einziges Problem gelöst, das mit den täglichen Grundbedürfnissen zu tun hat. Computer kann man ja durchaus «Intelligenz» attestieren. «Emotionale Intelligenz» würde ich doch eher den Menschen vorbehalten.


«Der Mensch lebt nicht vom Cyberspace allein»

Im Oktober/November werden 300 Wissensstars je 60 Fragen zum Thema Lernen zu beantworten haben. Z. B. diese: «Was haben Sie heute gelernt?» Einer antwortet pragmatisch: «Die Bedienung eines Ticket-Automaten.» Die Künstlerin antwortet: «Ich habe einen neuen Firniss gemischt.» Befindet man sich in bezug auf die Auswertung der Antworten nicht im Bereich der Chaosforschung?

In der Tat. Und zwar eher im Chaos als in der Forschung. Ich kann mir heute auch nicht recht vorstellen, worauf das ganze hinauslaufen soll. Zu verschieden sind die Interessen, zu divergierend die Betätigungsfelder der Beteiligten. Da aber könnte auch eine Chance liegen. Konsequent chaostheoretisch gesehen müsste sich ja aus einem vermeintlichen Durcheinander früher oder später wieder Ordnung einstellen. Da bin ich mal gespannt.

Was kann im besten Fall aus diesem Netzwerk Noisy98 entstehen?

Schwer zu sagen. Stecken wir mal die Extrempositionen ab: Der schlimmste Fall wäre, wenn das ganze dem digitalen Nirvana anheimfallen würde. Das heisst, wenn belangloser Datenmüll im Cyberspace eingefroren würde, den kein Mensch interessiert, oder der anderswo schon besser produziert wurde. Das beste, was Noisy98 passieren kann: das Versprechen einlösen und tatsächlich Spuren legen auf dem Weg zum «neuen» Lernen.

Wie gross ist die Gefahr, dass Noisy98 viel Lärm um nichts bedeuten wird?

Die Gefahr ist da, wünschen möchte ich dem Projekt nicht, dass es da voll hineinschlittert.

Vollständiges Interview

Mit Urs Scheidegger sprach Angelica Schorre

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