LOGISCH-SEMANTISCHE UNTERSUCHUNG ZUM FRAGESATZ

Urs Scheidegger 1976
Das ursprüngliche Typoskript wurde im Rahmen des noisy98-Projektes digitalisiert und zu Beginn der Jahrtausendwende ins epub-Format konvertiert.
Inhaltsverzeichnis
1. Präliminarien 3
2. Die logisch-semantische Struktur zweier Typen von Fragesätzen 4
2.1. Frage- vs Deklarativsatz 4
2.2. Kategorisch-totale Fragen 5
2.3. Kategorisch-partielle Fragen 6
3. Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 7
4. Bibliographie 9
1. Präliminarien
Die Tendenz in der Linguistik der jüngsten Zeit geht häufig dahin, umgangssprachliche Äusserungen in irgendeiner Weise mit logischen Ausdrücken in Beziehung zu setzen, oder anders ausgedrückt: die formale Logik (insbesondere die Prädikatenlogik der ersten Stufe) wird häufig als Hilfsmittel zur Explikation umgangssprachlicher Äusserungen herangezogen, sei es nun, dass gewisse Teile der Sprachwissenschaft als angewandte logische Systeme aufgebaut werden (Vgl. HERINGER), sei es, dass die Syntax der natürlichen Sprachen analog zur Syntax logischer Systeme konstruiert wird (Vgl. CHOMSKY) oder sei es, dass man Formeln von logischen Systemen als semantische Muster von Sätzen oder Texten der natürlichen Umgangssprache auffasst (Vgl. BIERWISCH, EGLI u.a.). Dabei scheint mir von allen dreien der letztere Weg als der erfolgversprechendste zu sein, und in der Tat trifft man in den neuesten Untersuchungen zur linguistischen Semantik mehr und mehr logische Formeln als Tiefenstrukturen zu umgangssprachlichen Sätzen. Der Grund dazu ist offensichtlich, dass logische Formeln einen sehr hohen Grad an Explizitheit aufweisen, denn
1. ist der Begriff der Formel präzis definiert, sowohl durch Festsetzung der vorkommenden Symbole als auch durch die Formationsregeln,
2. wird durch die Interpretationsregeln jedem Symbol genau eine Entität der Wirklichkeit zugeordnet, nämlich den Eigennamen Individuen und den Prädikaten Attribute und
3. sind in einem formalen System der Logik auch die Deduktionsregeln genau angegeben und zwar ohne, dass auf die Bedeutung der Ausdrücke Bezug genommen wird.
Für eine ganz bestimmte Klasse von Sätzen - nämlich die der Deklarativsätze, welche sich dadurch auszeichnen, wahr oder falsch zu sein - ist es relativ unproblematisch, logische Formeln als Tiefenstrukturen anzusetzen.
So haben z.B. die umgangssprachlichen Sätze (1) - (6), die alle mehr oder weniger bedeutungsgleich sind, gemäss den Interpretationsregeln (R1) - (R6) die logische Tiefenstruktur (T1).
(1) Das grüne Auto von Ulla hat zwei Scheibenwischer.
(2) Ullas grünes Auto hat zwei Scheibenwischer.
(3) Das Auto von Ulla, das grün ist, hat zwei Scheibenwischer.
(4) Ullas Auto, das grün ist, hat zwei Scheibenwischer.
(5) Das Auto, das grün ist und das Ulla gehört, hat zwei Scheibenwischer.
(6) Das Auto, das grün ist und das Ulla gehört, hat zwei Dinge, die Scheibenwischer sind. etc.
(R1) a —? Ulla
(R2) F —? Auto
(R3) G —? grün
(R4) H —? besitzt
(R5) I —? Scheibenwischer
(R6) = —? ist identisch mit
(T1) (Exyz) (Fx. Gx.Hax. Iy. Iz . (v) —? (y=v.z=v.y ? z)) . .Hxy.Hxz)
Durch das blosse Aneinanderreihen assertiver Äusserungen wie in (T1) entsteht zwar ein Text, eine Konjunktion deklarativer Aussagen, keineswegs aber ein Dialog.
Menschliche Kommunikation hingegen zeichnet sich meines Erachtens aber gerade dadurch aus, dass Gruppen von Personen sich örtlich und zeitlich zusammenhängend durch das Mittel der Sprache verständigen wollen; sie verständigen sich dialogisch, durch Rede und Gegenrede.
Und gerade in dieser dialogischen Situation ist eines von grösster Bedeutung: das Frage-Antwort-Schema. Um die Erfassung und Präzisierung dieses Frage-Antwort-Schemas soll es im folgenden gehen, selbstverständlich unter der grösstmöglichen Wahrung der formal-logischen Methode.
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2. Die logisch-semantische Struktur zweier Typen von Fragesätzen
2.1. Frage- vs Deklarativsatz
Die erste Aufgabe, der wir uns im folgenden zuzuwenden haben, besteht grosso modo darin, einigermassen plausible Kriterien aufzuspüren, mit Hilfe derer wir Frage- von Deklarativsätzen unterscheiden können. Wie wir bereits gesehen haben, entsteht durch die Konjunktion von Deklarativsätzen ein mehr oder weniger komplizierter Text von der Art p1. p2. p3…pn. Es ist klar dass man mit Fragesätzen nicht in der gleichen Weise verfahren kann. Schon rein morpho-phonologisch betrachtet unterscheiden sich Frage- von Deklarativsätzen.
Dies geschieht in den natürlichen Sprachen etwa durch
(a) Inversion wie in (1) Gibt jemand Hans ein Geschenk?
(2) Est-il heureux?
(3) May he come?
(b) Fragepartikel wie in (4) Est-ce qu'il pleut?
(5) Does Peter come tomorrow?
(c) Intonation wie in (6) You've been there?
Ersetzen wir nun die für Fragesätze charakteristischen morpho-phonologischen Eigenheiten (a) - (c) durch ? und den jeweiligen propositionalen Gehalt durch p, wie dies in der Satzlogik üblich ist, so ergibt sich für einen ganz bestimmten Typ der Kategorie der Fragesätze die allgemeine Struktur
(S1) ?p
Durch (S1) sind aber noch nicht alle Typen von Fragesätzen adäquat erfasst. Bezüglich der verschiedenen Typen von Fragesätzen stütze ich mich im folgenden auf die von PRIOR-PRIOR herausgearbeitete Unterteilung in kategorische, disjunktive und hypothetische Fragen sowie auf die bereits von ARISTOTELES gemachte Unterscheidung zwischen partiellen und totalen Fragen, heute auch oft Bestimmungs- bzw. Entscheidungsfragen genannt.
Demgemäss wären (1) - (6) Entscheidungsfragen oder totale Fragen; Bestimmungsfragen bzw. partielle Fragen wären vom Typ
(7) Wer liebt wen?
(8) Why has he come?
(9) Quand partira-t-il?
Zur besseren Übersicht gebe ich hier die von PRIOR-PRIOR gemachte Subkategorisierung der Frage im Baumgraphen
(G1)
Es sei gleich hier bemerkt, dass wir unsere Untersuchung in der Folge auf die kategorisch-totalen Fragen (1) - (6) und die kategorisch-partiellen Fragen (7) - (9) beschränken.
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2.2. Kategorisch-totale Fragen
Es ist meiner Ansicht nach ein vertretbares Vorgehen, das Problem der Fragesätze im Zusammenhang mit den jeweils möglichen Antworten zu betrachten.
Vergegenwärtigen wir uns dazu nochmals die allgemeine Struktur der kategorisch-totalen Frage
(S1) ?P
wobei ? ein Fragepartikel der Art (a) - (c) sein kann und p den propositionalen Gehalt des Fragesatzes repräsentiert.
Der einfachste Weg bestünde nun darin, alle möglichen Antworten auf eine Frage vom Typ ?p aufzuzählen. Dies allerdings ist erstens unökonomisch und zweitens vielleicht gar nicht möglich, da es auf eine Frage ?p unter Umständen unendlich viele Antworten geben kann.
Um aber dennoch diese möglicherweise unendliche Anzahl von Antworten in den Griff bekommen zu können, müssen wir wenigstens versuchen, allgemeine Regeln zu formulieren, die es erlauben, eine möglichst grosse Anzahl von möglichen Antworten zu erfassen.
Betrachten wir hierzu einmal Beispiel
(1) Gibt jemand Hans ein Geschenk?
oder in prädikatenlogischer Notation
(1') ? (Exy)(Mx.Gy.Gxay)
M —? Mensch
G —? Geschenk
G —? geben
Mögliche Antworten auf (1) bzw. (1') wären etwa
(A1) Ja
(A2) Es ist so, dass (Exy)(Mx.Gy.Gxay)
(A3) Nein
(A4) Es ist nicht so, dass (Exy)(Mx.Gy.Gxay)
(A5) Vielleicht
(A6) Vielleicht (Exy)(Mx.Gy.Gxay)
(A7) Möglicherweise
(A8) Es ist möglich, dass (Exy)(Mx.Gy.Gxay)
(A9) Ich weiss nicht, ob (Exy)(Mx.Gy.Gxay)
(A10) Noch nicht
(A11) Später vielleicht
(A12) Warum willst du wissen, ob (Exy)(Mx.Gy.Gxay)?
(A13) Ich weiss es nicht.
(A14) Wozu willst du es wissen?
Wir sehen nun, dass innerhalb von (A1) - (A14) drei Typen von möglichen Antworten vorkommen. Nämlich erstens einmal die Modibedeutungen M zusammen mit der Wiederholung des in der Fragestruktur (S1) enthaltenen propositionalen Gehaltes p.
Mögliche Antworten vom Typ Mp sind (A2), (A4), (A6), (A8), (A9), (A12).
Ferner können die Modibedeutungen M allein als Antwort gelten. Dies ist der Fall in (A1), (A3), (A5), (A7), (A10), (A11), und schliesslich haben wir noch (A13) und (A14), die sich als selbstständige Antwortformen F auf die Frage (1) bzw. (1') beziehen.
Gehen wir nun dazu über, für jeden der drei Typen von möglichen Antworten bezüglich der kategorisch-totalen Fragen Regeln zu formulieren, so erhalten wir:
(R1) Die wahren Sätze p sind möglichen Antworten erster Art auf
? (Exy) (Mx.Gy.Gxay) genau dann, wenn
M(Exy)(Mx.Gy.Gxay) wahr ist.
(R2) Die Modibedeutungen M sind mögliche Antworten zweiter Art auf ? (Exy)(Mx.Gy.Gxay) genau dann,
wenn M(Exy)(Mx.Gy.Gxay) wahr ist.
(R3) Die Antwortformen F sind mögliche Antworten dritter Art auf ? (Exy)(Mx.Gy.Gxay) genau dann, wenn F über der Frage "?(Exy)(Mx.Gy.Gxay)" selber wahr ist.
In diesem Zusammenhang wird noch folgendes ersichtlich, nämlich, dass in der prädikatenlogischen Notation der Frage ? (Exy)(Mx.Gy.Gxay) die Präsuppositionen
(P1) (Ex) Mx
(P2) (Ey) Gy
(P3) (Exy) Gxay
Geltung haben müssen, damit überhaupt eine der Antworten, die durch (R1) - (R3) erfasst werden, adäquat sein kann. Gelten nämlich die Präsuppositionen (P1) - (P3) nicht, wären mögliche weitere Antworten
(A15) -(Ex)(Ey)(Mx.Gy.Gxay)
(A16) (Ex)- (Ey)(Mx.Gy.Gxay)
(A17) - (Exy)(Mx.Gy.Gxay)
(A18) (Exy)(Mx.Gy.-Gxay) etc.
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2.3. Kategorisch-partielle Fragen
Im Gegensatz zu den kategorisch-totalen Fragen, wo syntaktisch gesehen p gewissermassen von M dominiert wird, wird bei den kategorisch-partiellen Fragen nicht nach dem M als p dominierenden Funktor gefragt, sondern nach einer oder mehreren Konstituenten in p selber.
Betrachten wir diesbezüglich Beispiel
(7) Wer liebt wen?
oder, indem wir die Fragekonstituenten durch w abkürzen
(7') w liebt w
Mögliche Antworten hierzu wären z.B.
(B1) Niemand liebt Manfred
(B2) Alle jemanden
(B3) Jemand liebt alle
(B4) Freddy irgendjemanden
(B5) Beatrice Kuno
(B6) Ich weiss es nicht
(B7) Alle schönen Mädchen einen Jungen
(B8) Ich weiss nicht, wer wen liebt
(B9) Urban das Mädchen an der Bar.
Ganz analog zu den kategorisch-totalen Fragen können für die kategorisch-partiellen Fragen die folgenden Regeln als Antwortschemata konstruiert werden:
(R4) Die wahren Sätze p sind mögliche Antworten erster Art auf w liebt w genau dann, wenn x liebt y wahr ist, wobei für alle Variablen in Prädikat x liebt y eine der folgenden Bedingungen (i) - (v) zutreffen muss:
(i) die freien Variablen werden durch Individuenkonstanten ersetzt,
(ii) die freien Variablen werden durch den Existenzoperator gebunden,
(iii) die freien Variablen werden durch den Alloperator gebunden
(iv) die freien Variablen werden durch den Iota-Operator gebunden
(v) die freien Variablen werden durch den Lambda-Operator gebunden.
(R5) Die Konstituentenbedeutungen X,Y sind mögliche Antworten zweiter Art auf w liebt w genau dann, wenn X liebt Y wahr ist, wobei für X,Y die Bedingungen
(i) - (v) gelten.
(R6) Die Antwortformen G sind mögliche Antworten dritter Art auf w liebt w genau dann, wenn G über der Frage "w liebt w" selber wahr ist.
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3. Zusammenfassung und Schlussbemerkungen
Im vorliegenden Aufsatz habe ich versucht, in etwas verdichteter Form die persönlichen Ergebnisse aus einer eingehenderen Beschäftigung mit der Fragelogik darzulegen.
Die an und für sich interdisziplinäre Thematik (Logik - Linguistik) lässt sich - nebst den zu Beginn dieses Aufsatzes gemachten Bemerkungen - ferner noch dadurch rechtfertigen, dass man beim Betreiben einer kommunikationswirksamen Textanalyse früher oder später auf das Problem der Frage als elementarem Dialogbestandteil stossen muss. Die angewandte Methode ist eine logisch-semantische und zwar aus Gründen der Explizitheit. Es ist nicht zu leugnen, dass gerade für die vorliegende Thematik die Inkorporierung von Ergebnissen aus der Pragmatik nicht nur äusserst interessant, sondern geradezu notwendig wären. Ich habe mich aber bewusst nur auf die semantisch-syntaktische Komponenten beschränkt, in der Hoffnung, die pragmatische eventuell zu einem späteren Zeitpunkt anfügen zu können.
Im einzelnen bin ich so vorgegangen, dass ich mich auf zwei Typen von Fragesätzen beschränkt habe, nämlich die kategorial-totalen und die kategorial-partiellen. Das Wesentliche der Untersuchung besteht eigentlich darin, dass man, nachdem es sich als unmögliches Verfahren herausstellte, einfach alle möglichen Antworten auf eine Frage aufzulisten, wenigstens versuchen sollte, Regeln zu finden, gemäss denen man genau bestimmen kann, was eine mögliche Antwort auf eine Frage ist.
Mir bleibt zu hoffen, dass ich durch die Rekonstruktion solcher Regeln einigermassen Klarheit in das zwar in der Umgangssprache so fraglos funktionierende, vom logisch-semantischen Standpunkt aus jedoch bedeutend schwieriger zu behandelnde Frage-Antwort-Schema gebracht habe.
Zu Dank verpflichtet bin ich einmal Herrn Prof. Dr. G. Redard, unter dessen anfänglicher Leitung diese Arbeit entstanden ist, sowie Herrn Prof. Dr. U. Egli, von welchem ich verschiedentlich mündliche und schriftliche Ratschläge betreffs der Fragelogik entgegennehmen durfte.
September 1976
URS SCHEIDEGGER
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4. Bibliographie
- ARISTOTELES de interpret 20b27 - 31
- BIERWISCH, Manfred, Semantik, in: LYONS, John Neue Perspektiven in der Linguistik, Reinbek 1975
- CHOMSKY, Noam, Syntactic Structures, Den Haag, Mouton (Janua Linquarum ser. min. 4) 1957
- CHOMSKY, Noam, Aspects of the Theory of Syntax, Cambridge, Mass., MIT Press, 1965
- HERINGER, Hans Jürgen, Formale Logik und Grammatik, Tübingen, Max Niemeyer (Germanistische Arbeitshefte 6) 1972
- PRIOR, Mary und PRIOR Arthur, Erotetic Logic, The Philoscophical Review 64, 43 – 59, 1955
- CHOMSKY, Noam (1957), Syntactic Structures, The Hague/Paris: Mouton, ISBN 9783110172799
- CHOMSKY, Noam (1959), A Review of B. F. Skinner's Verbal Behavior, Language, 35 (1): 26–58, doi:10.2307/411334, JSTOR 411334
- CHOMSKY, Noam; Schützenberger, Marcel-Paul (1963), The Algebraic Theory of Context-Free Languages (PDF), in P. Braffort; D. Hirschberg (eds.), Computer Programming and Formal Systems, North Holland, pp. 118–161
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