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Von mega Friedhof- und Mauerbauern: analog und digital

Verfasst von Urs Scheidegger | |   Sprachriff

Überlegungen zu «Sehnsucht nach kollektiven Erlebnissen», einem Wochenkommentar vom 4. Mai 2019 in der «Schweiz am Wochenende» über ein Ereignis, das offenbar nicht «mega» genug eingestuft werden kann, zumal das Wort «mega» neben anderem geradezu sprachriffig daher- und gigamässig oft  vorkommt.

Sehnsüchte nach Kollektiverlebnissen in (pekuniären) Mega-Erfolgen von «Avengers» und «Game of Thrones» dingfest zu machen, kann durchaus inspirierend sein. Wenngleich die Sehnsucht nach Gemeinschaft als urmenschliches Bedürfnis nicht erst existiert, seit einige Schweizer morgens um 3 Uhr den Fernseher einschalten, um sich als Teil einer Bewegung zu fühlen, weil sich auch in den USA «Game of Thrones»-Enthusiasten in Bars treffen, sich die neuste Folge zusammen ansehen, «johlen, jubeln und weinen» – Verhaltensauffälligkeiten, die eher Sportveranstaltungen zurechenbar sind. Interessanter wäre es, etwas über das Innenleben besagter Fantasy-Mega-Events zu erfahren. Wie es zu und her geht an diesen zumeist von mittelalterlicher Mythologie inspirierten Kostümfesten. Wie es kommt, dass die Mächtigen in Manier bronzezeitlicher Stammesfehden nach getanem Burg- und Mauerbau nur noch am eigenen Machterhalt interessiert sind, während eine Handvoll von den Guten damit beschäftigt ist, nicht alle naslang gegen die Wand oder ins offene Messer zu laufen. Damit in diesen doch recht personalintensiven SF-Geflechten alles einigermassen überschaubar bleibt und nicht allzu unbedarft daherkommt, sorgen imposante visuelle, akustische, rührselige Ablenkungsmanöver, wozu bisweilen auch zeitgeistiges Hofieren herhalten muss: Mit «Killing Eve» wird unter all dem psychisch gestörten Serienpersonal immerhin der Gendergerechtigkeit die Reverenz erwiesen. Ansonsten darf die Transpiration bedenkenlos der Inspiration den Rang ablaufen. «Chli stinke muess es», wenn in obszöner Lüsternheit mit offen gelegtem Gedärm, gespaltenen Schädeln und drapierten Organen die Schlachtplatte angerichtet wird – eher grob geschnetzelt. Nun gut, es ist ja auch nicht alles Feinkost, was einst Shakespeare zubereitet hat. Da fliesst reichlich Blut und wird ordentlich gemeuchelt, z. B. im «Titus Andronicus». Und in der Nachdichtung gleichen Namens gibt Dürrenmatt noch eins drauf, lässt dem Gemetzel freien Lauf, bis – Achtung: schlimmstmögliche Wendung! – niemand mehr lebend auf der Bühne steht.
Wie gerufen kommt da das digitale «memento mori» in Form neuster wissenschaftlicher Untersuchungen, die prophezeien, dass Facebook im Jahr 2070 mehr tote als lebende Nutzer hat. Damit wird sich die «Facegruft» – wie der Datenvampir scherzeshalber auch schon genannt wurde – als weltgrösster Friedhof unter jene geschätzten 110 Milliarden eingliedern, die bisher auf Erden ihr Dasein gefristet haben. Weil davon gefühlte 90 Prozent in Vergessenheit geraten sind, sollen die zahllos Namenlosen für einmal hier und jetzt in Erinnerung gerufen werden. Und da man nie so genau weiss, ob es die Jetztzeit augenblicklich oder erst zeitnah schafft, die Grundlagen irdischen Lebens definitiv zu ramponieren, hier eine tröstliche Perspektive: Mutter Erde wirds so oder so überleben. Es dauert womöglich ein paar Jahrmillionen, bis sie wieder etwas Menschenähnliches hervorbringt, wie auch schon «zappenduster» an einem Dezembertag im Jahre 2012 bemerkt wurde.

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